Vorwort

„Und so komme ich zu der Einsicht, dass es keine wahre abstrakte Malerei geben kann.“

Brigitte Reuter, Ende Juli 2017

Mit der (hier sinngemäß zitierten) Aussage weist Brigitte Reuter (1940-2017) auf den Umstand hin, dass abstrakte Malerei stets von konkreten Objekten oder Strukturen inspiriert wird. Sie grenzt dabei ihre Aussage für die Malerei bewusst von der Musik ab. Zum besseren Verständnis sei hier kurz auf die Begrifflichkeit tiefer eingegangen.

In der Musik unterscheidet die Literatur zwischen programmatischen und abstrakten Werken. Programmatische Werke bilden akustische Vorkommnisse mehr oder weniger getreu mit musikalischen Klängen und Strukturen nach. Archetypische, stilbildende Beispiele für programmatische Musik sind Antonio L. Vivaldis Jahreszeiten oder die Gewittermusik aus Gioachino A. Rossinis Barbier von Sevilla. Dem gegenüber stehen archetypische, gleichermaßen stilbildende abstrakte Werke der Musik wie die Fugen Joh. Seb. Bachs oder klassische Sonatensätze etwa von Wolfgang A. Mozart oder Ludwig v. Beethoven.

Brigitte Reuter, o.T., 70cm ✕ 70cm,<br /> Öl auf Leinwand
Abb. 1: Brigitte Reuter, o.T., 70cm ✕ 70cm,
Öl auf Leinwand

Eine Abstraktion im Sinne des Abstreifens realistischer Elemente und der Reduktion auf einen wesentlichen strukturellen oder klanglichen Kern wird dabei auch der programmatischen Musik nicht nur zugestanden, sondern ist die Regel. Denn eine vollkommene akustische Imitation der realen Welt wäre keine musikalische Komposition, sondern käme einer Tonaufnahme oder allenfalls einer Collage aus Aufnahmeschnipseln gleich. Daher bezeichnet in der Musik ein abstraktes Werk ein solches, das keinen klanglichen oder strukturellen Bezug zur realen, außermusikalischen Welt mehr erkennen lässt, wie typischerweise im Falle der Fuge oder Sonate.

Während in der Musik abstrakte Werke im erläuterten Sinne etabliert sind, verhält es sich im Bereich der Malerei ein wenig etwas. Steht in der Akustik der lineare, eindimensionale dynamische Verlauf der Zeit im Mittelpunkt des Schaffens, so ist es in der Malerei die zweidimensionale, zeitlich statische Fläche, die mit Inhalt gefüllt werden will. Abstrakte Malerei nimmt stets konkrete Strukturen und Formen aus der realen Welt als Inspiration, die in abstrahierter, also reduzierter, Form auf die zweidimensionale Leinwand projiziert werden. Eine vollständige Abstraktion, völlig losgelöst wie in der abstrakten Musik, findet sich in der abstrakten Malerei jedoch nicht, da die Projektion bei aller reduzierenden Abstraktion stets noch der realen Welt entnommenen Strukturen und Elemente durchblicken lässt, da anderenfalls das Gemälde wohl kaum mehr rezipierbar wäre.

Brigitte Reuter realisiert in ihren späten Bildern eine einzigartige Synthese aus realistischen Bildelementen und abstrahierenden Strukturen. In gewisser Weise ähnelt ihr Spätwerk damit beispielsweise dem eines Paul Cézanne, sucht aber dennoch auf ganz eigene Weise eine persönlich geprägte Synthese, die die vorliegende Retrospektive ihres Lebenswerks aufzuspüren und ihr nachzugehen sucht.